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[Archiv] Berlinale 2014 – Gedanken eines Fachbesuchers

Ursprünglich gepostet am: 21. Februar 2014 auf filmosophie.com

Ich bin schon seit mehreren Jahren bei der Berlinale als Fachbesucher akkreditiert. Letztes Jahr bot sich mir die Gelegenheit, als Presse-Akkreditierter bei der Berlinale dabei zu sein, so dass ich nun beide Seiten kennenlernen konnte.

10 Tage Festival sind eigentlich nicht planbar und wenn doch, dann kommt am Ende alles irgendwie anders. Das A und O eines Berlinale-Besuchs ist die Planung der Tage. Bei einer Filmauswahl von mehreren 100 Filmen ein nicht zu verachtender Vorteil. Es gibt aber auch Besucher, die nur die ersten Tage planen und sich dann spontan entscheiden. Ob Plan oder nicht Plan, seit der Zusage für die Akkreditierung im Dezember konnte ich es kaum erwarten, dass das Programm Ende Januar online ging. Wie eine kleine Qual erschienen mir die dauernden Pressemitteilungen über die beim Festival laufenden Filme. Als dann Ende Januar das Programm und vor allem die Termine der verschiedenen Filmscreenings endlich online gingen, machte ich mich an die Planung der 10 bzw. 9 Tage filmischen Ausnahmezustandes.

In der Regel gibt es keine bestimmte Vorgehensweise bei der Planung des eigenen Programms. Auch dieses Jahr erwies es sich als hilfreich, die Termine als Fixpunkt zu nehmen, die eigentlich nicht zu verschieben waren und nur einmal beim Festival vorkamen. Wie zum Beispiel die Vorstellung von Martin Scorseses bislang unfertiger Untitled New York Review of Books Documentary oder die Aufführung der restaurierten Fassung von Das Cabinet des Dr. Caligari in der Philharmonie. Ausgehend davon konnte ich den Rest des Programms organisieren. Ich versuche jedes Jahr einmal um die Welt zu kommen und mir Filme aus den unterschiedlichsten Kinonationen anzuschauen. Wenn nicht hier, wo dann? Es kommt auf die Balance an. Erschwerend kam dieses Jahr aber hinzu, dass viele Filme mehr als 2 Stunden dauerten und somit den ganzen Rhythmus durcheinander geworfen haben. Am Ende stand das Programm. Doch ich musste feststellen, dass es dieses Jahr nicht nur ambitionierter war als die Jahre zuvor, sondern auch fragiler. Vielleicht nicht ohne Grund hatte ich es zu Beginn thematisch passend „House of Cards“ getauft, denn wenn ein Film nicht so klappen würde wie geplant, drohte das ganze Gebilde in sich zusammenzubrechen.

Trotz minutiöser Planung wusste ich auch dieses Mal, dass der Plan am Ende der Berlinale völlig anders sein würde als gedacht. Überhaupt kam mir auch wieder der Gedanke, dass wir als Fachbesucher weniger vom Terminstress getrieben sind als die Pressebesucher. Ja, vielleicht kann sich der Fachbesucher mehr dem filmischen Erlebnis eines solchen Festivals hingeben. Jedes Jahr fällt mir aber auch auf, dass man als Fachbesucher zu gern dazu tendiert, dem Beispiel der Presse zu folgen und versucht, möglichst viele Filme aus dem Wettbewerb zu schauen, um am Ende auch mitreden zu können. In beiden Fällen gehen einem dabei aber immer wieder auch einzelne filmische Juwelen durch die Finger, die in den anderen Sektionen des Festivals laufen und stellenweise sogar sehenswerter sind als mancher Wettbewerbsfilm. Die Sektionen Panorama und Forum bieten dahingehend immer wieder spannende Überraschungen.

Gerade wenn ich enttäuscht oder gar sauer vorzeitig aus einem Film gehe, fallen mir jedoch auch wieder die Vorteile einer Akkreditierung ein. Als Akkreditierter ist man in der vorteilhaften Lage, einfach aus einem Film gehen zu können wenn er nicht gefällt. Als Besitzer einer gekauften Karte ist die Hemmschwelle wohl höher. Bei den Gesprächen mit den Menschen in der Warteschlange vor den Kinos ist mir aber aufgefallen, dass viele Kaufkartenbesucher trotz dieser Hemmschwelle viel näher am ursprünglichen Kinoerlebnis sind als wir. Vielen Leute ist es weniger wichtig, welchen Film sie sehen, sondern dass sie überhaupt bei der Berlinale waren und das ganze Gefühl eines Festivals, sprich das Warten, das Anstehen, das Hoffen auf die Karten und so weiter mitnehmen.

Wo wir schon von Stress reden. Der Fachbesucher mag vielleicht nicht vom gleichen Terminstress getrieben sein wie die Pressevertreter, doch der Stress offenbart sich auf andere Weise. Während die ersten Personen vor dem Presse-Ticketcounter erst 15 Minuten vor der Öffnung um 8 Uhr anstehen, beginnt das Anstehen um die begehrten Premierenkarten bei den Fachbesuchern schon viel früher. Das Anstehen hat aber auch seinen ganz eigenen Reiz. Es ist der Ort, an dem man über Filme diskutiert, sich darüber aufregt, wie die Berlinale-Taschen jedes Jahr unpraktischer werden, wo man sich austauscht und die treuen Berlinale-Freunde wieder trifft, die man den Rest des Jahres so schmerzlich vermisst hat. Die Schlange ist aber auch der Ort, an dem der zu Beginn gemachte Plan wieder über den Haufen geworfen wird. Da die anderen aus der Schlange den Filmgeschmack ihres Gegenübers mittlerweile kennen, geben sie einem Tipps oder man hört von Lobreden auf einen Film, den man bis dato nicht auf der Liste hatte. Wie zum Beispiel Snowpiercer vom südkoreanischen Regisseur Bong Joon-Ho, von dem ich bis dato noch nichts gehört hatte und im Nachhinein froh bin, ihn gesehen zu haben.

Ist erst einmal die Neugier geweckt, fange ich immer an, den Plan zu überarbeiten. Der einzige Nachteil bei diesen spontanen Änderungen ist, dass sie eine Art Kettenreaktion auslösen: in der Regel laufen die Filme 2 bis 3 Mal auf dem Festival. Verschiebt man einen Termin, so kollidiert dieser neue Termin unweigerlich mit dem eines anderen Films, der wiederum dann auch verschoben werden muss und so weiter. Doch Planung und Spontaneität sind eben auch ein Teil eines Festivals diesen Ausmaßes.

Berlinale ist jedoch stellenweise auch „körperliche Arbeit“. Die längeren Filme in diesem Jahr hatten nicht nur Auswirkung auf die Planung, sondern sind stellenweise auch eine körperliche Herausforderung und das gerade in den Spielstätten, die nicht als reines Kino konzipiert sind wie zum Beispiel der Friedrichstadt-Palast. Gegen Mitte des Festivals macht sich daher unweigerlich auch der Körper langsam bemerkbar. Das frühe Aufstehen, das Anstehen, die langen Filme und der stark reduzierte Schlaf, den man mit übermäßigem Kaffeekonsum in Schach zu halten versucht, setzen zu. Wenigstens hatte der Winter dieses Jahr ein Einsehen und machte Pause. Dennoch: Die Anzahl der Filme steigt und zugleich keimt für einen Moment der eigentlich absurde Wunsch nach einem baldigen Ende des Festivals auf. Spätestens jetzt ist jeder der Dauerbesucher aber auch in der Parallelwelt angekommen, die so ein Festival prägt und auf eine gewisse Art auch einzigartig macht. Eine Welt für sich. Wie eine Sphäre, die sich um die zentralen Spielstätten am Potsdamer Platz legt und stellenweise vergessen lässt, dass dort draußen, jenseits der Dunkelheit des Kinosaals, auch noch eine Welt liegt.

Kaum ist die Halbzeit des Festivals vorbei, neigt sich die Berlinale auch schon dem Ende zu. Die mutigen Kinogänger aus der Kaufkartenschlange, die Nächte lang vor den Schaltern campieren, um eine der wenigen Premierenkarten zu ergattern, werden weniger. Der fein säuberlich gemachte Plan ist mittlerweile durch Korrekturen und Änderungen völlig durcheinander. Doch trotz der zahlreichen Änderungen merke ich wie jedes Jahr, dass es zwar auch Fehlgriffe gab, ich jedoch bei der Filmauswahl im Großen und Ganzen viele richtige Entscheidungen getroffen habe. Je mehr sich das Festival dem Ende zuneigt, desto lauter werden auch die ersten Spekulationen um mögliche Bärengewinner. Man begutachtet intensiver die Kritiken und die Rankings der Zeitschriften und Tageszeitungen, regt sich darüber auf und bildet am Ende doch seine eigene Meinung.

Es ist Samstag, der vorletzte Tag des Festivals. Im Durchschnitt hat jeder Besucher in der Schlange in den letzten Tagen 30 + X Filme gesehen. Es ist Zeit, ein letztes Mal Kräfte zu sammeln. Und spätestens jetzt, in all der Müdigkeit, die einen übermannt, merkt jeder, dass die Berlinale bald wieder zu Ende ist. Tipps für die bevorstehende Verleihung werden noch abgegeben und mit einem traurigen Gefühl verabschiede ich mich bereits von den ersten Freunden aus der Schlange. Wir verabreden uns für das nächste Jahr und stellenweise wünsche ich mir sogar, das Festival würde nicht enden. Umso komischer und bizarrer erscheint dann der folgende Publikumstag: die Magie ist schon ein bisschen verflogen, man muss nicht mehr für die Karten anstehen, das Chaos und die Menschenmassen in den Arcaden am Potsdamer Platz sind verschwunden. Die Dekoration wird langsam abgebaut, die Bären sind vergeben, die Party scheint zu Ende.

Ich habe mich am letzten Tag dahingehend auch gefragt, welche der beiden Seiten ich vorziehe: die des Presse- oder die des Fachbesuchers. Ich glaube, dass die beiden Welten nur bedingt vergleichbar sind. Jedoch im Fall der Berlinale, das schon immer ein Festival für das breite Publikum war, würde ich die der Fachbesucher vorziehen. Schon aus dem Grund, weil die ganzen genannten Herausforderungen die Berlinale für mich ausmachen. Darüber hinaus bietet sich dem Fachbesucher die Möglichkeit, bei allen Premieren dabei zu sein, ein Hauch von Glamour zu spüren und den Stars ein bisschen näher zu sein. Als Pressevertreter ist dies leider nicht immer der Fall.

Und wenn sich dann am Sonntagabend zum letzten Mal der Vorhang im Kino schließt, merke ich, dass es vielleicht ganz gut ist, dass das Festival zu Ende ist und nicht weiter geht. Denn wenn es dauernd weiter gehen würde, wäre die Magie dieser 10 Tage verloren und die Vorfreude auf die kommende Ausgabe der Berlinale und das Wiedersehen nur halb so schön.