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[Archiv] Die langen hellen Tage – Intensives georgisches Kino

Ursprünglich gepostet am: 03. Juli 2014 auf filmosophie.com

Als ich dieses Mal aus der Pressevorführung ging, fiel mir wieder auf, dass ich trotz der Chance als Kritiker Filme en masse sehen zu können, doch noch einige Kinonationen für mich zu entdecken habe. Georgien ist eine davon. Mein Interview mit dem Regie-Duo findet ihr übrigens hier.

Die besten Freundinnen Eka (Lika Babluani) und Natia (Mariam Bokeria) werden zu jungen Frauen während der langen, hellen Sommertage 1992 in der georgischen Stadt Tiflis. Sie leben in einer unsicheren und unruhigen Welt, in der eine geschenkte Pistole als ein Zeichen der Zuneigung verstanden wird, ein Heiratsantrag mehr wie eine Entführung wirkt und in der Liebe und Lebensgefahr nicht weit voneinander entfernt sind. Das post-sowjetische Georgien ist auf sich selbst gestellt, der alltäglich Kampf in der Schlange um das tägliche Brot dominiert das Alltagsleben, die eigenen Eltern versagen kläglich als Vorbild und doch wissen sich die Mädchen zu behaupten. Sie sind ganz normale Teenager, die Spaß haben, gegen ihre Lehrer rebellieren, heimlich rauchen, unanständige Lieder singen und schließlich die Kette der Gewalt ganz ohne fremde Hilfe durchbrechen.

Die lange hellen Tage ist einer dieser Filme, die noch lange im Gedächtnis bleiben und das aus vielen Gründen.

Kernstück sind die beiden Hauptdarstellerinnen Lika Babluani und Mariam Bokeria, die perfekt miteinander harmonieren und mit diesem Film ein sehenswertes Leinwanddebüt geben. Das Besondere am Zusammenspiel der beiden Schauspielerinnen ist, dass sie sich gegenseitig auf sehr interessante Art und Weise ergänzen. Während Natia im ersten Teil des Films eher den Ton angibt, souverän und diejenige ist, die sich gegen die Schikanen der Jungs auflehnt und sich Respekt verschaffen will, scheint Eka die Situation mit einer schon fast ungewöhnlichen stoischen Ruhe zu ertragen. Im zweiten Teil des Films hingegen scheinen die Rollenbilder zu wechseln und während Natia ihr Souveränität verloren zu haben scheint, wächst in Eka das Selbstbewusstsein sich mit dem Leben und dessen Probleme auseinander zu setzen.

Nicht nur, dass der Film von Nana Ekvtimishvili und Simon Groß Einblicke in eine in meinen Augen zu wenig beachtete Kinonation bietet, sondern er zeichnet auch ein sehr interessantes Portrait des post-sowjetischen Georgiens, von dem auch nicht viel bekannt ist. Die Hauptstadt Tiflis erscheint, bis auf wenige Ausnahmen, fragmentarisch und beengend. Nur aus engen, verfallenen und verwinkelten Gassen und Straßen bestehend. Überhaupt spielt der Film nur in dieser Enge der Straßen und Gassen sowie der Enge der kleinen verwinkelten Wohnungen der Protagonisten. Es ist der wundervollen Kameraarbeit und den gekonnt choreografierten Kamerafahrten von Oleg Mutu zu verdanken, dass der Zuschauer tief in diese Enge eintauchen kann, bei den Menschen selbst ist und auf tiefgehende Art und Weise Teil des Geschehens wird.
Es liegt wohl auch daran, dass der Film so lange im Gedächtnis bleibt und nicht so leicht wieder loslässt. Es ist eben auch in dieser Enge, in der immer wieder die Konflikte entstehen und dabei ein Bild einer Nation und von Menschen entsteht, die aufgrund der unsicheren Lage im Land und in ihrem jeweiligen Leben immer am Rand des Nervenzusammenbruchs zu sein scheinen. Und es bleibt offen, ob und wie es aus dieser Situation einen Ausweg geben kann. Einen Ausweg aus einer Situation, die stellenweise nur staunend und verwirrt zurück lässt.
Doch das tolle an diesem Film ist, dass er seine Intensität nicht aus der scheinbar deprimierenden oder gar desolaten Situation zieht. Im Gegenteil, es ist gerade eben die Freundschaft zwischen Natia und Eka, die all diese schwierigen Umstände übersteht, wie ein Ruhepol für die beiden Freundinnen und den Zuschauer ist und am Ende auch Dreh- und Angelpunkt der Geschichte sein wird.

Um am Ende noch eine weitere Lanze für diesen Film zu brechen, eine kurze Beschreibung die ich nach der Pressevorführung erlebt habe. Als der Titelabspann lief und die leider wenigen Kritiker im Saal anfingen ihre Sachen zu packen, hörte ich einen der älteren Kritiker sagen: „Und noch ein Film, den die Welt nicht braucht“ (oder so ähnlich). Ich habe diese Aussage in anderer Form auch schon an anderer Stelle gehört und ich bin weiterhin der Meinung, dass das ein bisschen an eine Art von Arroganz grenzt, die sich glaube ich viele unserer Zunft leider über die Jahre hinweg angeeignet haben. Denn nur weil ein Film nicht den üblichen dramaturgischen Mustern folgt, heißt das nicht, dass er weniger wertvoll ist.
Das Wundervolle an den Filmen aus anderen Kinonationen ist nicht nur, dass sie uns in oft unbekannte filmische Wirklichkeiten entführen, sondern auch zeigen, dass Dramaturgie auch anders funktionieren kann – und Die lange hellen Tage ist ein glänzendes Beispiel dafür. Die Handlung des Films nimmt oft komische oder genauer gesagt in unseren europäischen Augen ungewöhnliche Wendungen und die Figuren legen von Zeit zu Zeit ein Verhalten an den Tag, das uns ungewohnt erscheint. Jedoch ist die Dramaturgie immer ein Spiegelbild der Gesellschaft die im Film gezeigt wird, des Blicks der Gesellschaft auf die Wirklichkeit die sie umgibt und sie wiederum auch bedingt. Auch aus diesem Grund erscheint sie in unseren Augen vielleicht ein wenig komisch und fremd, doch wer sich auf diesen Blick einlassen kann und will, wird tiefgehende Erfahrungen mit anderer Kinonationen, eines anderen Landes machen und mit Die lange hellen Tage ein Film sehen, der zu Recht als georgischer Beitrag für die Oscars 2014 ins Rennen ging und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde.

Kinostart: 21. August 2014